Japan. Zwischen Exzess und Erschöpfung

Japan. Was soll ich sagen. Nach 13 Tagen in Okinawa bin ich erschöpft, müde, ausgelaugt. Ich wusste, dass dieses Land eine Herausforderung ist. Aber so? Es ist kaum in Worte zu fassen. Es ist eine permanente Überforderung der Sinne. Glücklicherweise nicht unbedingt laut. Aber einfach permanent. Lichter, Piepsen, Schriften in allen Größen, Formen und Farben. Keine Ahnung, wo man zuerst hinschauen soll.

Marktstraße Naha. Es geht auch schriller.

Dazu: Alles, aber auch wirklich alles, ist bis ins letzte Detail erklärt und geregelt. Das meiste auf Japanisch und das macht es leichter, diese Umstände zu ignorieren. Aber wenn es selbst für einen banalen Kinderstuhl eine einseitige Erklärung gibt, wie genau man den kleinen Zwerg hineinsetzt, beaufsichtigt und wieder heraus nimmt, dann fragt man sich schon ernsthaft, für wie blöd eine Gesellschaft seine Mitbürger hält. Ich hielt die Japaner für eines der am höchsten und besten gebildeten Nationen. Die Schulen sind berüchtigt fürs BulimieLernen. Pauken, bis man kotzen muss. Für die Benutzung einer Toilette braucht man vermutlich sogar ein Hochschulstudium. 10 bis 30 Knöpfe flushen jeden Winkel, in allen möglichen Winkeln und Stärken, Spot- oder Sprühspülung. Ich bin geneigt, in die schlüpfrigen Details zu gehen und bleibe bei: Man hockt quiekend auf dem Pott oder steht feiernd in der Dusche wie ein Zwerg beim ersten DisneylandBesuch. Ich bin tatsächlich geneigt zu resümieren: So ein Klo will ich auch mal haben. Thron mit Triumph. Alleine die Bedienung der Badarmaturen füllt locker mehrere DinA4-Seiten. Glücklicherweise nahezu ausnahmslos auf Japanisch. So bleibt der Spieltrieb erhalten. Um herauszufinden, welch sensorischer Genuss (oder auch nicht), sich hinter den Knöpfchen verbirgt.

Anleitung für einen Kinderstuhl auf der Toilette, damit Muddi in Ruhe am Handy tillern kann. Oder so.

Alles wird so detailliert erklärt, dass man nur in den IgnoranzModus wechseln kann, damit man nicht völlig durchdreht. Weil selbst der Fahrstuhl zweisprachig mit einer japanischen, tickenden kleinen Mädchen Stimme erklären muss, dass jetzt die Türen öffnen oder schließen. Manches erinnert an eine schlechte Pornosynchronisation. Sorry, aber das ganze Land erinnert an schlüpfrige Schulmädchenphantasien. Okay, ich kann nur für Naha sprechen, aber erfahrene Japankenner berichten von Clubs, in denen man sich ab 30 Minuten ein Mädchen in offenherziger SchulmädchenUniform kaufen kann. Für ein Gespräch und die Illusion, eine Freundin zu haben. In einem vereinsamten Land. Mit zu vielen alten und einsamen Menschen: Man kann sich Großeltern auf Zeit mieten, besser gesagt kaufen. Ebenso eine scheinbar heile Familie. Japan ist auch eine Gesellschaft mit zu vielen jungen und einsamen Menschen: Kindern, die hinterm Handy oder der PlayStation bereits im Kinderwagen geparkt werden. Ich kämpfte gegen meine eigene Aggression. Gegen die Eltern.

Der Monorail. Deutschland hats mit dem Transrapid einfach verpennt

Und manchmal ist es einfach lustig und man kann darüber lachen. Manchmal verfällt man in bitteren Sarkasmus. Manchmal legt man sich einfach nur ins Bett, stopft sich seine maßangefertigten Ohrenschützer in die Löffel und hängt sich auch noch die Noisecanceling Kopfhörer über. Nicht mal Meditationsmusik hilft. Nur noch die totale Stille. Alles in einem schreit nach Ruhe und Flucht. Aber wohin will man hier flüchten? Die ganze Außenwelt schreit nach Aufmerksamkeit. Mit quietschend bunten Bildern, permanenter Beschallung, Gepiepe überall. Geld- und Ticketautomaten können nicht 1 Sekunde die Klappe halten.

Bei Rot hüpft hier keiner rüber. Höchstens mal ne Langnase

Was macht das mit einer Gesellschaft und den Menschen? Mein bescheidene Eindruck: Alle fallen gesellschaftlich in totale Ignoranz. Stöpseln sich Kopfhörer ein. Ignorieren ihre Umwelt. Sitzen im Bus und realisieren nicht, dass neben ihnen eine alte Frau oder eine Mutter mit Kind steht. Ich erwarte ja nicht, dass sie aufstehen. Aber es wäre fair, wenn sie wenigstens ihre Tasche vom blockierten Sitz nehmen. Dieser Egoismus, Rücksichtslosigkeit haben mich wirklich verärgert. In einem Land, dass so viel Wert darauf legt, die Etikette zu wahren und das Gesicht nicht zu verlieren. Es aber vielleicht ist es auch nur ein Produkt der eigenen Überforderung. Der Ruhelosigkeit. Der Rastlosigkeit. Vor mir im Bus saß eine Mutter mit zwei kleinen Kindern und hat während der 60 Minuten Fahrt 55 Minuten per WhatsApp gechattet. Die Kinder sind offensichtlich darauf gedreht oder dressiert, einfach still zu sein. Aber sie bettelten still um Aufmerksamkeit und bekamen sie nicht. In wenigen Monaten oder Jahren werden sie alt genug sein, um mit einem eigenen Handy zu lernen, abzutauchen und nicht aufzufallen. Und das ist tatsächlich phänomenal in diesem Land: man fällt nicht auf. Manchmal erkennt man kleine Anzeichen des Widerstandes. Zwei Jungs um die 10 fahren verbotenerweise Skateboard im Fußgängerbereich. Es dauerte keine 60 Sekunden, bis sie von zwei Aufpassern einen gepflegten Einlauf bekamen und den Platz verlassen mussten. Ich feierte ihren Abgang, provozierend fuhren sie auf ihren Skateboards davon. Meine ganze Persönlichkeit schrie zwei Wochen: WIDERSTAND. Aber selbst das widerrechtliche überqueren der Straße kostet ein Vermögen. Mit drakonischen Strafen versucht ein System krampfhaft um den Erhalt einer seit hunderten Jahren schlechtbewährten Ordnung. Als tätowierte Gäste blieb uns der Zugang zum Hotelpool sogar im internationalen Hotel verwehrt. Es sind zwar mittlerweile nicht wenige Japaner ebenso tätowiert, aber es gibt immer noch eine veraltete Verbindung zur japanischen Mafia. Da durfte das böse Zonenmädchen also nicht ins Wasser, oder halt mit Burkini. Als Zonenkind ahne ich, wie das mal enden wird. Allerdings kann eine Jugend in erschreckender Minderheit vermutlich weniger ausrichten in einem völlig überalterten Land.

In Schnaps eingelegte Schlange. War überraschend lecker.

Die letzte Nacht verbrachten wir in einer Karaokebar und diese Stunden heilten zumindest ein bisschen das Erlebnis Japan: Wir trafen ein gutes Dutzend junge und unendlich fröhliche, ausgelassene japanische Männer, vermutlich eher grad erwachsene Jungs. Tranken Bier in einer verräucherten Bar, spielten Dart, sangen Karaoke (ja, ich auch. Und ich hätte mal viel dagegen gewettet, dass ich in Japan Nenas 99 Luftballons singe). Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal bis früh um fünf durchhielt. Fakt ist, diese Stunden waren heilsam und unvergesslich zugleich.

Ja. Ich sang. Wurde zu Nenas 99 Luftballons genötigt.

Ließen mich vergessen, dass unzählige japanische Männer direkt nach der Arbeit in einer Bar versumpfen, sich Mädchen kaufen, genau solange ins Koma fallen, bis sie wieder klar genug im Kopf, bis zum 80 Wochenstunden zu schrubben. Oder bis zum Karoshi. Japan kreierte tatsächlich ein eigenes Wort für: sich zu Tode arbeiten.

Tatsächlich sind Bilder japanischer Anzugträger, die ihren Rausch auf Parkbänken oder in der U-Bahn ausschlafen, keine Seltenheit. Das japanische Gesundheitsministerium schätzt, dass 6,5 Millionen Japaner alkoholkrank sind, die Dunkelziffer könnte bei 10 Millionen liegen. Bei 125 Mio Einwohnern.

Warum Japaner so viel trinken? Alkohol kompensiert die Arbeitsethik – entspannen und Sorgen vergessen. Die japanische Mentalität gebietet Höflichkeit und Harmonie, Streitigkeiten werden nicht offen unter Kollegen ausgetragen. Alkohol tröstet, versöhnt. Besonders wichtig, weil Japaner sehr treue Arbeitnehmer sind. Häufig ihr ganzes Leben in einer Firma arbeiten und so Tagein Tagaus mit dem gleichen Kollegen klarkommen müssen.

HappyHourBingeSaufen (30 Minuten für 500 Yen, 3,38€ oder 90 Minuten für 2000 Yen, 13,50€) führt zu schnellem Rausch und einem ernsthaften Problem mit Alkoholismus im Land. Zudem lassen sich alkoholkranke Japaner selten therapieren. Wer seine Krankheit damit offenbart, wird oft als „schwacher Charakter“ stigmatisiert – was der Karriere wiederum schadet. Ein Drama.

(Quelle Alkoholismus in Japan: Finanzen100)

Camping am Strand. Geburtstag. Der schönste Tag

Dazu gibt es aktuell eine gigantische Untergrundszene. Darüber schreibe ich lieber nicht öffentlich. Es ist überraschend einfach, in dieser zu landen. Und was man dort erlebt, raubt einem den Atem. Und zwingt die Finger jetzt zum Stillstand.

KitschShoppingMeile Naha und nur wenige Schritte entfernt taucht man ein. In eine andere Welt

Es gibt keine Orte zum verweilen. Kaum ein Platz, an dem man sich einfach mal hinsetzen und aussuchen. Nach einer Bank sucht man Ewigkeiten und nicht selten vergeblich. Immerhin gibt es alle paar Meter einen Supermarkt mit einer Toilette. Vielleicht ist das einzige Rückzugsort in der Öffentlichkeit.

Ich habe eine Bank gefunden

Vielleicht ist mein bescheidener Eindruck nach zwei Wochen sehr ungerecht und unfair. Und ganz sicher birgt Japan, unzählige Schätze und eine wunderbare Natur und Kultur. Wie gerne hätten wir sie erkundet. Einfach einen Mietwagen genommen und ein paar Tage die Insel entdeckt. Aber der administrative Aufwand für einen Führerschein Übersetzung ist so groß, dass selbst Japaner damit überfordert waren. Man könnte eine Agentur damit beauftragen und bis zu sechs Wochen warten. Vielen Dank auch. Man kann natürlich auch eine Insel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erkunden. Diese gibt es tatsächlich. Allerdings halten die Busse alle paar hundert Meter und so dauert es unzählige Stunden, um von Nord nach Süd zu kommen. Alles nur frustrierend. Nein. Nicht alles. Es gab tatsächlich einen gigantischen japanischen Lichtblick. Das Essen. Und das ist wirklich phänomenal und weltweit das beste, was ich jemals genießen durfte. Selbst das Sushi im Supermarkt ist Weltklasse gegenüber dem Sushi in Europa. Die Suppen sind einfach klasse und japanisches Wagyu Beef ist orgiastisch. Leider trübt der Preis den sinnlichen Hochgenuss und beschränkt diesen bei 500€ pro Kilogramm auf die Füllung des hohlen Zahns. Ein hauchdünnes Scheibchen im Sushistil auf Reis liegt bei schlanken 5 Öcken.

Wagyu. Das Beste, was ich je aß.

Der Rückflug nach Japan ließ die Tränen kullern. Völlige Erschöpfung. Müdigkeit. Okay, ein Nachtflug nach einer durchzechten Nacht in zwei Karaokibars war semiintelligent. Aber ich war wirklich einfach wirklich nur fertig. Einerseits froh, zurück in meine neue südostasiatische Basis Da Nang zu ziehen. Aber auch tatsächlich traurig darüber, Menschen zurückzulassen, die mein Herz eroberten. So bleibt die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Irgendwo auf der Welt. Vielleicht wieder in Japan.

Zu Besuch auf der US Airbase in Okinawa

Sonne im Herzen in Erinnerung ans Land der aufgehenden Sonne

3 Comments

  1. Lutz Grundmann

    toller Blog …super Livia !!!

  2. Meike

    Puh, das ist ja mal eine ganz andere Sicht an eine Japan Reise. Vieles davon wusste ich nicht, zum Beispiel die soziale Ignoranz. Das die viel am Handy sitzen und dort die Technik sowieso viel weiter ist wusste ich. Aber so krass? Oder mit den Alkoholismus ist mir auch neu. Das die viel arbeiten ja, ist ja in Südkorea genauso. Aber macht auf jeden Fall Sinn. Zu viel Arbeit, zu viel verdrängte Emotionen, die man nicht verarbeiten kann, dann greift man halt zu irgendeiner Strategie/Überlebensmodus, um klar zu kommen. Schade, dass du so einen Eindruck hattest. Für mich steht das Land trotzdem immer noch auf Top 1 meiner Bucketlist. Aber natürlich gilt dann: raus aus der Stadt! Lg

  3. Matt Weid

    Das Leben ist kein Ponyhof. In Japan scheinen sie noch nicht einmal Ponys zu haben.
    Alles Gute für Deine weitere Reise. Vielleicht am 31.08.2023 nach Koh Phangan zur Fullmoonparty?
    VG Matt

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