Verwirrung ist ein echter Motivator für mich etwas Verrücktes zu tun. Und ich war verwirrt. Alles lief perfekt und wieder auch nicht. Entscheidungen mussten her und ich fürchtete sie. Ich wollte nicht alleine sein und konnte Gesellschaft nicht ertragen. Hatte zehn Tage ganz für mich, nur für mich. Arbeiten, zu Hause bleiben, verreisen? „Ach verdammte Axt“ tönt es in solchen Momenten in mir und es tönte noch lauter: Ich muss hier raus! Ich will hier weg! Bevor ich es mir noch kurzfristig anders überlegen konnte, buchte ich. Kurz vorher. Einen Billigflug nach London, dazu einen Mietwagen für zehn Tage. Mit dem Taschepacken warte ich immer bis kurz vor Abfahrt und dann ereilte sie mich endlich. Die Vernunft. „Bist du noch ganz bei Trost?“, haderte es in mir. Ich überlegte, das Geld in den Sand zu setzen und hier zu bleiben. Angst vor der eigenen Courage und die Gewissheit: Flucht bringt es auch nicht.
Das letzte Fünkchen Stolz und Ehrgeiz navigierte mich dann doch bis zum Flieger, in den Flieger, nach Stansted. Sprachlos, nicht vor Verzückung, vor Hilflosigkeit stand ich da. Stellte fest, dass mein Englisch eingerostet war, die Reste meines indian-english auf wenig Verständnis stießen und wollte nur noch weg. Linksverkehr, widerliches Essen, kaum freie Unterkünfte, das Alleinesein … Tagelang bereute ich die Entscheidung, aber ich wollte, naja, musste, das Beste draus machen … Von Nase und Bauch ließ ich mich führen. Planlos würde so mancher sagen. Perfekt lenkten sie mich!
An das Wasser wollte ich!
Ein Urlaub ohne Wasser ist wie Wein ohne Trauben. Eines Tages, eines fernen Tages, oder wer weiß … ich werde am Wasser leben. Das ist gewiss.
Ich mag keinen See, keinen Fluss sehen, sondern das Meer. Ich kann Wochen am Meer verbringen und nicht mal einen Fuß reinhalten. Einfach nur den Horizont sehen. Damit bin ich schon zufrieden. Der Blick in die Weite, kein Baum, kein Hügel, keine Häuser. Das fehlt hier so, die Unendlichkeit für die Augen, für die Gedanken, für die Seele. Immer ist es beschränkt, hört irgendwo auf. Auch das ist wohl ein Grund dafür, dass ich GipfelAusblicke als Ersatz temporär akzeptieren kann. Ich erträume mir dann das Meer hinter den unsichtbaren Horizont, irgendwo ist es ja auch.
Also, auf nach Süden. Viele Stunden Fahrt für ein paar Kilometer. Der Bauch wies mir den Weg und ich landete an der Jurassic Coast und South West Coast. Endlich das Meer vor Augen und fast immer ist es das gleiche Ritual. Der erste Blick auf diese Weite verschlägt mir den Atem, ein Kloß im Hals, der Wasserstand in den Augen steigt. Pures Glücksgefühl. Stehenbleiben oder Losrennen. Arme weit ausgebreitet, tief durchatmen.
Zehn Tage lagen vor mir, die Südküste wollte entdeckt werden. Und ich entdeckte sie. War jeden Tag unzählige Kilometer unterwegs, wanderte, saß einfach im Gras, am Strand. So oft wie möglich der Blick auf das Meer und fast immer dabei, meine beiden treuen Begleiter: Laptop und Kamera.
Aber viel größer, aufregender und anstrengender auf einem solchen Weg ist die Reise ins ICH. Niemand war da, der mich ablenkte, den ich ablenkten wollte oder musste. Die Gedanken nur bei mir. Wie anstrengend kann das eigene ICH werden. Ich vermisste meine Muttersprache. Scheiterte an meinem hohen Anspruch an Kommunikation, dem ich mich auf Englisch weder gewachsen fühlte, noch Lust hatte, Abstriche zugunsten eines Smalltalks zu machen. Also schwieg ich und ließ nur meinen Gedanken freien Lauf. Ich musste so viel loswerden, ordnen, die Vergangenheit verstehen, in mein Herz schauen und ich wurde es los. 56 Seiten füllten sich fast von alleine. Jeden Tag wurden Reiseeindrücke zu einer Reise in meine Vergangenheit. Ich verstand, warum ich hier bin und fing an, diese Zeit zu genießen. So kostbar. Es wird lange dauern, bis sich wieder eine solche Gelegenheit bietet und so nutzte ich sie. Schrieb alles nieder, kam eigentlich gar nicht hinterher mit dem Tippen, denn der Kopf dachte um ein Vielfaches mehr, als es letztendlich möglich war, wiederzugeben. So manch wirrer Satz liegt nun vor mir und wohl nur ich werde jemals den Zusammenhang im Großen und Ganzen verstehen können. Das reicht mir, damit bin ich zufrieden. Vorerst.
Einen Schatz brachte ich mit aus dem Urlaub. Keine Fotos, keine Souvenirs, keine Erinnerungen an Orte sind die wahren Schätze. Es sind nie die Orte, an die wir uns erinnern, es sind die Gefühle, die sie in uns auslösten. Der Schatz war die Reise ins INMICH! Und für diese Reise braucht es Zeit, Muße, innere Stille, Abstand, raus aus dem Trott, neue Horizonte und das Meer. Dafür braucht es Auszeiten. Dafür waren meine zehn Tage da. Zehn Tage Südengland. Eine sanfte Landung, innig, warm, herzlich, meditativ und mit der schlichten Gewissheit: Alles wird gut! Gelassen bin ich wieder da, auf dem weiteren Weg. Mit ganz viel Meer vor Augen und wieder mehr Sonne im Herzen.