Das Fernweh-Gen

Wenn so ein Erdenmenschlein entsteht, vermischen sich eine Unzahl genetischer Materialien zu einem neuen Ganzen. Mit etwas Glück treffen erfolgreiche, schöne, intelligente, glücksbehaftete, reichtumsversprechende Erbgutträger aufeinander und aus eins plus eins wird in einem kurzen Moment der gewollten oder ungewollten Unbeherrschung DREI.

So wurde ich einst auf diese Welt geschubst und erhielt die doppelte Menge Fernweh- Gene. Schon im Ich-kann-gerade-so-laufen-Alter war ich zu gerne unterwegs und übte mich im Davonlaufen. Mein erster großer „Fluchtversuch“ geschah in den Tagen nach dem Mauerfall, dazu schrieb ich bereits. Und ganz dramatisch nach Vollendung meiner Volljährigkeit.

Ich wischte die Flure in Krankenhäusern, schleppte als Ferienaushilfe Briefe, Pakete und Zeitungen durch Jena, saß an der Supermarktkasse und räumte Regale ein. Früh um vier stand ich vor großen Briefsortieranlagen und verdiente mir mit Nachtzuschlägen und gutem Stundenlohn das Geld für meine Träume. Alles mit nur einem Ziel: Ich will was von der Welt sehen! Und ich sah viel von der Welt. Asien, Nordafrika, Mittelamerika und natürlich Europa. Jede Mark wurde auf den Kopf gehauen. Tausende plätscherten in Flüge, Hotels, Zugreisen, Busfahrten, Mietwagen. In exotisches Essen und Erinnerungen. Nie habe ich zusammengerechnet, was ich dafür ausgab, auch wenn ich nicht verschwenderisch lebte. In Indien fand ich zum Beispiel heraus, dass man viel günstiger auf Hoteldächern übernachten kann. Man bekommt eine Isomatte, einen Schlafsack und im Idealfall einen so atemberaubenden Blick in den Sternenhimmel, dass man nicht schlafen kann, um dieses Himmelskino nicht zu verpassen. Aber ich schweife ab …

Irgendwann holte mich mein IST-Leben wieder ein. Ich wurde sesshaft. Zwei zauberhafte Burschen bereichern mein Dasein auf nie geahnte Art und Weise und fordernmichheraus.IchfanddenBeruf,denichsosehrliebeundnochmehr lebens-, lachens- und vor allem liebenswertes ErdenGlück …

Ein Buch katapultierte mich am vergangenen Wochenende zurück in meine Träume: „Das große Los“ von Meike Winnemuth. Es ließ mich ignorieren, was um mich herum geschah. Ich musste das Buch durchfressen und tat es. Rezensionen liegen mir nicht so, aber es sei euch gesagt – Prädikat lesenswert.

Wer bin ich? Was will ich? Wohin führt mich mein Weg? Bin ich bereit, etwas zu wagen, über meinen Schatten zu springen? Alleine als Frau um die Welt? „Du musst dein Ändern leben“, war einer der Schlüsselsätze für mich, oder auch „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“.

Mit einer halben Million Euro, die sie bei Günther Jauchs „Wer wird Millionär“ gewann, erfüllte sich Meike Winnemuth einen Lebenstraum. 12 Monate reiste sie um die Welt, jeden Monat in einer andere Metropole. Lädt ein auf eine Reise in ihr ICH, in ihre Veränderungen, die solche Eindrücke mit sich bringen. Das Geld hätte sie dafür nicht einmal gebraucht. Zu offen ließ die Autorin, wie schwer ihr das Landen im DanachSein fiel. Nur zu gut erinnere ich mich daran, wie schwer es ist, sich nach Ereignissen, die so tief bewegend sind, wieder Bodenhaftung zu gewinnen. Da sitze ich nun. 329 Seiten verschlungen. Angefixt. Die alte Sehnsucht aus den Untiefen meines ICHs nach oben befördert.

Das Buch wird mein Bücherregal vorerst verlassen, mit meinen Markierungen in anderen Händen landen, bei Menschen, die ebenfalls diese Sehnsucht kennen. Ich verschenkte das Buch an diejenige, die mir eines der SehnsuchtsGene vererbte.

Und irgendwann lese ich es erneut. Wenn ich so weit bin. Wenn ich meine Aufgabe im Hier und Jetzt erfüllt habe, denn sie bereitet zu viel Freude. Sie ist mein gewolltes und geliebtes Hier und Jetzt. Ich übe mich in Geduld, denn verstanden habe ich, dass die Entscheidungen, die ich treffe und der Weg, den ich gehe, goldrichtig sind. Umwege und Staus bringen nur weiter. Sackgassen erweitern den Erfahrungsschatz. Keine Erfahrung ist vergebens.

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