Lange dachte ich darüber nach, ob und wie ich mich an dieses Thema wagen kann und darf. Meine Interessen als Journalistin und Mutter zweier Kinder kollidieren beim Thema „Schule und Erziehung“. Wie weit darf ich mich da aus dem Fenster lehnen? Gar nicht?! Werde ich vor einen Karren gespannt, den ich gar nicht ziehen dürfte? Muss ich bei Missständen schweigen, an Kollegen verweisen? Hier und jetzt beschloss ich, es nicht zu tun und ein Thema aufzugreifen, welches mir seit Monaten auf der Leber liegt und immer und immer wieder aktuell wird:
KOLLEKTIVSTRAFE!
Haben Sie schon mal was von Kollektivstrafen gehört? Eine Kollektivstrafe ist das Bestrafen einer Gruppe oder Klasse für das Fehlverhalten Einzelner. Um es vorweg zu nehmen: Eine Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen der Zeitgeschichte im Zusammenhang mit diesem Blog wäre rein zufällig und natürlich nicht beabsichtigt. Hier wird nur der Erfahrungsschatz von gut einem Dutzend verzweifelter Eltern von Kindergartenzwergen und Schulwichteln zusammengetragen und verallgemeinert.
Ein paar praktische, aber fiktive Beispiele:
Mittagessen im Kindergarten, ein Zwerglein kleckert und schwatzt, Reaktion der Erzieherin: „Wenn du nicht sofort damit aufhörst, bekommen alle Kinder keine Mittagsschlaf-Geschichte!“
Unterricht in der Grundschule, ein paar Schüler sind auffällig und benehmen sich daneben, der Lehrer verhängt dafür eine Leistungskontrolle für die ganze Klasse mit einer Benotung jenseits von Gut und Böse, bis hin zu Auswirkungen auf die Zeugnisnote.
Sport in einer fünften Klasse, zwei Schüler raufen sich und die ganze Klasse muss dafür fünf Platzrunden laufen.
Sie finden das banal und gerechtfertigt? Stellen Sie sich mal vor, Ihr Kollege baut Mist und der ganzen Belegschaft wird dafür der Lohn gekürzt! Sicher ist eine verpasste Mittagsschlafgeschichte nicht mit einer Lohnkürzung vergleichbar. Aber hier geht es um die Vermittlung von Recht und Gerechtigkeit! Abgesehen davon, dass bereits 1961 der Bundesgerichtshof Strafen dieser Art in der Bundeswehr verbot. Auch das Thüringer Schulgesetz (§ 51 V) regelt die rechtliche Unzulässigkeit der Verhängung von Ordnungsmaßnahmen gegenüber Klassen und Gruppen.
Man muss sich auch fragen, welche Auswirkungen solche Strafen auf die Kinder nach sich ziehen:
Das Fehlverhalten einzelner Kinder wird zu einer Bestrafung einer Klasse oder Gruppe missbraucht. Diese trifft auch immer Unschuldige und verstößt damit gegen den elementaren rechtsstaatlichen Grundsatz, dass jede Strafe Schuld im Sinne einer vorwerfbaren Verwirklichung eines „Straftatbestandes“ voraussetzt. Schulen und Kindergärten sind als staatliche Einrichtungen den Grundsätzen eines Rechtsstaates unterworfen. Das geht so weit, dass ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt, weil die betroffenen Unschuldigen zum bloßen Objekt der Disziplinargewalt erniedrigen werden. Aus diesen Gründen sind Kollektivstrafen stets unzulässig.
Das war die rechtliche Seite der Medaille. Die andere Seite ist die moralische Betrachtung. Kinder vertrauen uns, wir vermitteln ihnen Werte und unser Gespür für Gerechtigkeit. Sie lernen von uns und übertragen unsere Vorstellungen auf ihr eigenes Leben. Starke Kinder mit einem sicheren Gespür für Gerechtigkeit widersetzen sich einer solchen Bestrafung und riskieren damit noch eine Extraportion Unrecht. Starke Eltern lehnen sich auf und legen sich im Idealfall mit der ganzen Einrichtung an. Aber die meisten Eltern und Kinder resignieren. Warum? Weil das schon immer so gehandhabt wurde? Irgendwie muss man doch die nichtwohlgeratene Brut reglementieren? Was ist das denn für ein verkorkstes Gerechtigkeitsdenken und – handeln?
Eine Gruppe für das Fehlverhalten Einzelner zu bestrafen offenbart lediglich die eigene Hilflosigkeit und pädagogisches Missgeschick vom Feinsten. Unschuldige werden zum Opfer degradiert. „Schuldige“ werden bei einer Kollektivstrafe mehrfach bestraft: Pädagogische Übermacht wird dazu missbraucht, in eine Gruppendynamik einzugreifen. Das Kind erhält die Strafe vom Pädagogen, vermutlich noch von den Eltern, aber auch von seiner Gruppe. Die Gruppe wird das Kind dafür, dass es diese Strafe verbockt hat, auch noch ächten, das Kind ausschließen. Wie hilflos müssen wir Machtinhaber sein, um das unseren Schutzbefohlenen anzutun?
Ich wünsche mir Kinder, die den Mut finden, sich dieser Schikane zu widersetzen.
Ich wünsche mir Eltern, die ihren Kindern dabei den Rücken stärken und sich aktiv für die Abschaffung dieser Unsitte einsetzen.
Ich wünsche mir Pädagogen, die sich ihrer Vorbildrolle bewusst werden und nicht mehr zu hilflosen und verbotenen Strafen greifen.
Ich wünsche mir Vorgesetzte, die Lehrer und Erzieher dazu anhalten, dass öffentliche und private Einrichtungen rechtsstaatliche Grundsätze leben und lehren.