Kurz vor dem Ziel. Über 42 Kilometer sind geschafft. Eine gewaltige Explosion lässt viele Läufer straucheln, einige haben noch genügend Kraft auszuweichen und in einem großen Bogen um die Explosionswolke zu sprinten. Einem älteren Marathonläufer zieht es förmlich die Beine weg, er liegt am Boden. Zuschauer hinter der Bande am Zieleinlauf werden schwer verletzt, verlieren Gliedmaßen oder gar ihr Leben. Fotografen mitten im Geschehen, dokumentieren, halten drauf.
Die Live-Berichterstattung der Neuzeit lässt die Zuschauer in Echtzeit an solchen Katastrophen teilhaben. In den ersten Tagen flimmern rund um die Uhr immer wieder die gleichen Bilder über den Schirm. Bedienen den Voyeurismus, die Geilheit an Schrecken und Leid? Oder dokumentieren, erfüllen journalistische Pflichten? Verstört sitze ich vor dem Fernseher und schalte ab. Schlechtes Gewissen im Anbetracht meiner Ignoranz. Lässt es mich kalt? Berührt es mich nicht? Oh doch, sehr sogar! Unschuldige Menschen wurden Opfer zweier Bombenanschläge. Das macht betroffen, wütend, traurig, fassungslos. Der öffentliche Umgang mit diesem „Ereignis“ allerdings auch. Jedes Schicksal, das vor die Linse stolpert, wird ausgeschlachtet. Menschliche und familiäre Tragödien bis ins Detail vorgeführt. Ist das unsere journalistische Pflicht? Wie empfinden Leser und Zuschauer das? Fühlen SIE sich angemessen informiert? Oder ist es Unterhaltung mit Quotengarantie?
Was mir aber noch viel mehr auf der Seele brennt: Ist diese Berichterstattung verhältnismäßig?
Ist es verhältnismäßig, über solche Fakten mit deutlich weniger Aufwand zu berichten:
Nach Angaben der Vereinten Nationen verloren mehr als 70 000 Syrer bislang ihr Leben, über eine Million sind auf der Flucht, Stadtteile gleichen Ruinenlandschaften.
Unklar ist die realistische und atomare Bedrohung, die von Nordkorea ausgeht.
Laut Welthungerhilfe leiden unglaubliche zwei Milliarden Menschen an Mangelernährung, 870 Millionen gelten als hungernd. „Jeden Tag sterben 6.000 Kinder an Hunger“, so Joachim Gauck, Schirmherr der Welthungerhilfe.
Ungezählt die weltweiten Toten durch Gewaltverbrechen, Kriege, Krankheit, Drogen …
Wie viel Beachtung erfahren die Millionen Schicksale auf der Welt, die mindestens genauso dramatisch sind? Wie viel Unterstützung erhalten Völker beim Kampf um Trinkwasser, gegen Diktatur und Unterdrückung? Welcher Fotograf stürzt sich gleichermaßen auf ein verhungerndes Kind in Somalia? Wie viele Journalisten wagen es, über Genitalverstümmelung von 6000 Mädchen am Tag zu berichten?
…
Ja, ich lehne mich weit aus dem Fenster!
Aber ich bin irritiert, über das Ausmaß der Berichterstattung über ein Ereignis, das im Verhältnis zum aktuellen Weltgeschehen einen überaus hohen Wert erhält. Empfinden wir Schicksale aus der „ersten Welt“ berichtenswerter? Fühlen wir uns einem amerikanischen Opfer terroristischer Anschläge mehr verbunden, als einem Syrer, der alles verloren hat und in den Irak flüchtet.
Ich bin besorgt, dass andere, drängende Probleme damit in den Hintergrund rücken.
Ich hinterfrage meine Rolle als Journalistin und Fotografin. Wo endet mein Recht auf Berichterstattung? Wo beginnt meine Pflicht?