Es war mal wieder soweit. Ein paar Tage am Stück ließen sich freischaufeln und so führte mich mein Weg in den Norden. Was für eine gute Wahl. Die Sonne schien. Fischbrötchen satt. Stundenlange Spaziergänge am Strand. Selbst die Kamera war nicht auf jedem Weg dabei und wer mich kennt, der weiß, wie außergewöhnlich das für MeinerEiner ist. Den Laptop packte ich zwar ein, aber nur einmal aus. Und so waren es einfach nur genussvolle und gelassene Tage an der geliebten Ostsee. Nach vielen Monaten mal wieder NurSein und NichtFunktionieren. Vom Tag und vom Hunger treiben lassen. Dem Alltag Entschleunigung gönnen, das Tempo rausnehmen. Viel zu selten schaffe ich das und dennoch zunehmend besser. Wenn, dann sind es eher kleine Inseln unter der Woche, ein paar Augenblicke.
Wusstet ihr, dass wir heutzutage die Erde zehnmal schneller umrunden können als vor 100 Jahren? Damals wollten sich unsere Vorfahren schneller bewegen, um mehr Zeit zu haben. Verkehrsmittel verkürzen schließlich die Reisezeit. Noch nie waren wir so schnell wie heute! Es gibt Menschen, die fahren im Jahr mit ihrem Auto dreimal um die Welt. Die Welt ist 60 mal kleiner geworden. Haben wir doch in unserer Arbeitswelt und dem Alltag alles dafür getan, um uns das Leben zu erleichtern. Wir sind immer und überall erreichbar, unsere Geschwindigkeit der Fortbewegung hat sich vervielfacht.
Wo ist der Zeitgewinn geblieben? Haben wir mehr Freizeit als unsere Großeltern und Urgroßeltern? Haben wir das Leben nur beschleunigt, um mehr Zeit zum Entschleunigen zu haben?
Wirklich bewusst wird mir das immer, wenn ich im Stau stehe. Statistisch betrachtet verbringen wir sechs Monate unseres Lebens damit, im Stau zu stehen. Wir alle wollen voran kommen, möglichst gleichzeitig und in die gleiche Richtung – ein rasender Stillstand. Wie absurd das doch anmutet. Wie viele Stunden sind wir nur dafür unterwegs, damit wir irgendein Ziel erreichen? Wie bemisst man hier noch Nutzen und Aufwand? Ist diese langsam rollende Wartezeit vergeudete Lebenszeit oder bezahlte Arbeitszeit? Wir beschleunigen unser Leben, unsere Fortbewegung, um Wartezeit zu reduzieren?! Was für ein Kreislauf der Absurdität! Wollen wir überhaupt diese Beschleunigung durch höhere Geschwindigkeiten?
Ich frage mich, ob uns unsere Mobilität mehr Zeit verschafft. Oder legen wir einfach nur in der gewonnenen Zeit größere Strecken zurück? Gewinnen wir damit mehr Zeit? Verursachen wir höhere Kosten? Steht unter dem Strich überhaupt noch eine schwarze Zahl? Falls nicht, ist es doch ernsthaft eine Überlegung wert, einen Schritt rückwärts zu gehen und die Geschwindigkeit, mit der wir durch unser Leben rasen, ein wenig zu reduzieren. Auf dem Weg die Oasen zu suchen, in denen wir nur wir selber sind. Nicht die Marionetten für andere. Aufhören, Beschleunigung und Bremskraft in G zu messen und anfangen, Lebensqualität mit Messgrößen wie Gelassenheit, Entspannung, Glück und Lebensfreude zu bewerten?!
Aufgehalten zu werden, ist vielleicht kein Diebstahl der eigenen Zeit, sondern ein Gewinn von Lebenszeit …
Überraschend finde ich, wie alt diese Gedanken über Raum und Zeit sind. Heinrich Heine schrieb 1843 anlässlich der Eröffnung der Eisenbahnlinien von Paris: „Es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte“. Er begeisterte sich für die technischen Errungenschaften und hegte jedoch damals schon Unbehagen: „Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig“.
170 Jahre später sind die Gedanken aktueller denn je. Aus Eisenbahnen wurden Autos und Flugzeuge, noch um ein Vielfaches schneller. Wege zu Fuß werden zur Ausnahme? Nicht, wenn man sich die Zeit dafür nimmt und den Raum dafür gönnt. Mit allen Sinnen dabei. Den Wind um die Ohren wehen lassen. Salzige Luft schmecken. Den Geruch der Ostsee in der Nase. Die Augen auf Sand und Steine gerichtet, nach Muscheln und einem Hühnergott suchen … AuszeitInseln, die Kraft spenden und die Arbeit danach leichter von der Hand gehen lassen.