Relativität des Überlebens

Mit einer Mischung aus höchstamüsiert und genervt-ignorant verfolge ich immer mal wieder im Gesichtsbuch (Anm. Facebook) die residenzstädtisch-kleinstaatlichen Diskussionen. Unglaublich, für welch provinzbehaftete Themen so eine Menge an Energie verschwendet wird. Ich muss da mal eine Geschichte erzählen, die mir dazu einfällt, auch wenn sie auf den ersten Blick meilenweit entfernt scheint:

Im Rahmen geistiger Umnachtung, spätpubertärer Anwandlung oder frühweiblichen Wahnsinns entschied ich mich mit 21 meinen Rucksack zu packen und alleine und auf eigene Faust nach Indien zu fliegen. Mit null Plan landete ich in Neu Delhi und ließ mich vier Wochen durchs Leben treiben. 16kg im Tatonka auf dem Rücken geschultert tappte ich durchs Land. Eines Tages sah ich in erreichbarer Ferne das Dach eines vielversprechenden Tempels, er sah aus wie eine Lotusblüte. Ich beschloss, den kürzesten Weg zu Fuß zu wählen. Quer durch ein Wohngebiet. Nur wenige Meter später landete ich im wohl schlimmsten Slum von Neu Delhi. Kleine Kinder hockte nacktbeinig und blankärschig im zerrissenen Shirt über Abwassergräben, die wir uns heute nur noch in den schlimmsten Mittelalterträumen vorstellen können. Sie ließen dort das fallen, was hierzulande in Windeln landet. Eine Armut und ein Dreck begegneten mir, dass ich erstarrte. Tränen schossen mir in die Augen. Ich kam nicht vor und zurück. War gelähmt. Die Leute gingen an mir vorbei. Fassungslos schauten sie mich an. Die blonde große Frau, in Jeans, mit Rucksack, verheult. Ich verlor jedes Zeitgefühl und stand. Neben mir hupte es. Ein Autofahrer sammelte mich ein. Nie würde ich in ein fremdes Auto steigen, dort tat ich es. Der Fahrer war wütend. Schrie mich an, was ich hier zu suchen hätte, ob ich lebensmüde wäre. Kein Mitleid mit mir, meinen Tränen. Im Gegenteil. Er stutzte mich zurecht. „Du kommst aus deiner Welt hierher. Lebst im Luxus, weißt nicht, was es heißt zu hungern, krank zu sein und nicht versorgt zu werden. Hör auf zu flennen! Es geht dir verdammt gut und du bist unglücklicher als wir.“ Am India Gate schmiss er mich aus dem Wagen und düste wutschnaubend davon.

Dieses Bild von den kleinen Kindern geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Und meldet sich immer wieder, wenn sich mein Kopf weigert, so manches Sörgchen ernst zu nehmen.

Was haben wir für Sorgen in unserer Gothaer Provinz? Parkgebühren? Politische Kleinstaaterei? Heizprobleme im Tabarzer Spaßbad Tabbs? Ein einkaufszentraler Glitzerpalast?

Abermillionen Menschen kämpfen weltweit um ihre Existenz, dafür muss man nicht nach Indien reisen …

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