Ich war unterwegs. Nach Dortmund. Aus Gründen.
Zu gerne sattle ich mein Schneetier und fahre auch lange Strecken, ohne dass ich es als Muss empfinde. Aber dieser Dienstag wurde zu einem besonderen Tag. Reichlich Schnee verwandelte die Landschaft in glitzerndes Weiß und die Straßen in rutschige und gefährliche Pisten.
Als bekennender Morgenmuffel pellte ich mich früh um fünf mühsam aus dem Nest. Kaffee und Dusche halfen nur bedingt beim Wachwerden. Die Verkehrsinfo im Internet war auf meiner Seite, keine ernstzunehmenden Beeinträchtigungen auf der Straße. Ich fuhr auf die A4 Richtung Westen und hing meinen Gedanken nach. Das klappt am besten beim Fahren. Stundenlang lasse ich die Gedankenzüge durch meinen Kopf fahren. Mal sind es Bummelzüge, mal ist der der ICE und ganz selten ein TGV. Diesmal waren es ruhige Gedanken, nur der Bummelzug im Kopf, noch zu früh für mehr. Hinter Eisenach rissen mich gelbe Blinklichter und rote Rückleuchten aus meinem Fahrertrott. Ich konnte gerade so bremsen. Das war knapp. Totaler Stillstand auf der Werratalbrücke. Nichts ging mehr. Wenige Meter vor mir sind sechs Autos und zwei LKWs heftig zusammengestoßen. Es ist finster, man sieht kaum etwas. Ein Kloß im Hals. Weiche Knie. Ich kann nicht aussteigen, es zu eng, links der aufgehäufte Schnee an der Leitplanke und rechts ein LKW. Unmöglich, eine Rettungsgasse zu bilden.
Was wäre wenn? Was wäre, wenn ich Minuten vorher nur zwei Autos mehr überholt hätte? Was wäre, wenn ich nur 10 Sekunden eher losgefahren wäre? Was wäre, wenn ich nur kurz auf ́s Handy geschaut hätte oder den Radiosender verstellt? Im Stillstand hatte ich genug Zeit für „was wäre, wenn …“. Wie oft erleben wir Sekunden, die lebensentscheidend sind? Von einer Sekunde auf die andere verändert sich so viel. Wir begegnen scheinbar zufällig Menschen, die uns prägen, ein langes Stück unseres Lebens begleiten. Wir finden ein neues Zuhause, wechseln den Beruf. In nur klitzekleinen Augenblicken des Lebens ereignen sich Wendemomente. Momente, die Weichen stellen. Den Zug unseres Leben in eine andere Richtung fahren lassen. Auch hier stellt sich oft die Frage: „Was wäre, wenn …“. Welchen Weg würde unser Leben nehmen, wenn wir nicht zu DER Zeit an DEM Ort gewesen wären? Mitunter eine spannende Überlegung. Irgendwie auch müßig. Denn wir werden es nicht herausfinden und meistens wollen wir das auch nicht.
Aber das Bewusstsein dafür, dass sich in einer Sekunde alles ändern kann, relativiert den Wert von zukünftigen Tagen, Wochen, Monaten und Jahren in unserem Leben. Das HIER und JETZT ist das IST. HIER und JETZT leben wir. Und wir haben keine Ahnung vom Gleich, vom Später oder vom Irgendwann. Ist uns der Wert des JETZT überhaupt bewusst?
Es klopft an meine Scheibe. Ein Mann. „Fahren Sie bitte vorsichtig durch die Unfallstelle durch. Es ist nach hinten zu eng. Die Rettungsfahrzeuge kommen nicht durch“, sagt er. Im Rückspiegel sehe ich Blaulicht. Die beiden Autos vor mir rollen an. Ich gebe langsam Gas, fahre an dem Chaos vorbei. Überall liegen Autoteile verstreut, der Sachschaden scheint enorm. Später erfahre ich, dass drei Menschen zum Glück nur leicht verletzt wurden. Gänsehaut. Beklemmung bei diesem Anblick. Kaltheiß zieht es mir durch den Körper. „Was wäre, wenn …“. Hinter uns wird nach Ankunft der Polizei die Autobahn für dreieinhalb Stunden voll gesperrt und ich habe für viele Kilometer die Spuren fast für mich alleine. Tief durchatmen. Konzentrieren. Nicht mehr den Gedanken nachhängen. Das Ziel vor Augen.
Dankbar dafür, dass sich nur wenige Augenblicke so positiv für mich auswirkten. „Was wäre, wenn …?“ Ausblenden! Weiterfahren. Mit jedem Kilometer ein Stückchen mehr hinter mir lassen.