Wachschlaf oder Tagtraum

Tiefste Nacht – genau zwischen Schlafengehen und Aufstehen. Der Blick aus dem Fenster lohnt noch nicht: sattes Schwarz, kein Stern, nicht einmal das Licht einer Laterne. Schon durch die Scheibe fühlt es sich kühl und leer an. Es ist kalt da draußen, der Sommer verabschiedet sich schnell. Mit Wehmut trauere ich ihm hinterher. Flüchte mich in GedankenWärme. Eine himmlische Ruhe legt sich über mein Zuhause. Die Ohren sind noch eine Weile auf hab Acht und geben dann auf. Auf nichts müssen sie achtgeben. Kein Wort durchbricht die Stille, kein Auto rauscht vor dem Haus entlang, nicht einmal die Tiere rascheln im Wald hinter dem Gartenzaun. Es ist kühl, eine leichte Gänsehaut liegt über dem Körper. Die Fingerspitzen sind kalt, die Füße in zwei Paar Socken gepackt. Eingemummelt im Schneidersitz in eine warme Kuscheldecke, eine Tasse heißer Tee steht auf dem kleinen Tisch vor der großen Lümmelcouch, den GedankenSpeicher mit Tasten auf dem Schoss. Gedanken kommen und gehen, manchmal sausen sie wie ein ICE durch den Kopf, aber je ruhiger es von außen ist, umso langsamer ziehen die Gedanken vorbei. Lassen sich einfangen, in TastenWorte fassen.

Ich liebe diese Ruhe so sehr, dass es schon unzählige Nächte gab, in denen ich nicht schlafen konnte und wollte, einfach nur, um diesen Zauber zu genießen. Sinne, die nach außen gerichtet sind, finden keine Ablenkung mehr und kommen zur Ruhe. Stunden verbrachte ich in dieser Zeit schon vor meinem Rechner, sammelte vorbeiziehende Gedankenfetzen, ordnete sie und schrieb sie auf – Gedichte, Geschichten, Tagebucheinträge, E-Mails und Briefe, die nie abgeschickt wurden, dafür aber verbrannt. Schreiben ist Loslassen und in der Stille der Nacht geht das besonders gut. Nicht nur loslassen, auch ein Sichnäherkommen, Insichfühlen, Inmirankommen.

Zeit, Ruhe, Geduld, empfangsbereite Antennen braucht es dafür. Wann haben wir diese überhaupt noch? Wann sind wir mit ganzem Körper und Herz auf unseren Empfang eingestellt? Ist es nicht so, dass wir immer irgendwie schon wieder woanders sind? Nur ein Teil des ICHs genau dort ist, wo der Körper gerade steht? Warum ist es so schwer, genau in diesem Moment, wo wir sind, auch ganz da zu sein? Das ist wohl der Zauber meiner Nächte, in denen ich wach bin. Wenn der Körper nur eine Hülle ist, in dem der Geist einfach IST, so bewirkt diese Ruhe ein sicheres Wohnen unter der Schale. Nicht mal so richtig wach, eher in einem Dasein zwischen Schlaf und Nichtschlaf. Der Körper und die Sinne arbeiten mit gefühlt halber Kraft und sind doch ganz da. Wie eine Artischocke, die ihre stacheligen Schuppenblätter ablegt und nur das Herz freilegt – zart, verletzlich, verlockt es zum Genuss. Gedanken, die in der Zeit festgehalten werden, lassen mich Tage später staunen: War ich das? Leise Musik begleitet mich eher selten, lenkt fast zu sehr ab. Oder ich suche bewusst ein Lied mit Text zum Weiterwachträumen und Nurzuhören: Im Hintergrund läuft Musik „Komm und ruh dich aus“ von Martin Kilger, ein wunderschönes Lied.

Noch eine Stunde Zeit, das Licht im Haus weckt nun sanft die kleinen Träumer, die zur Schule müssen. Erste Autos fahren auf der Straße, ein Vogel sitzt im Garten und zwitschert leise, scheinbar auch noch nicht in Tagesform. Der Milchtopf steht auf dem Herd. Die Milch klettert den Rand empor und wie ein immergleiches Ritual schaffe ich es, sie gerade so vor dem Überkochen zu retten, meistens. Die Müslikörner purzeln in die Schale, fast immer liegen ein paar Haferflocken daneben, die Hände sind noch nicht im Tag angekommen. Zwei müde, morgenmaulfaule kleine Geister der Nacht setzen sich schweigend zu mir und gleiten langsam aus dem Nachtschlaf in den Noch-Tagtraum. Ein paar nahe Worte, nie zuviel.

Leise schnurpsen die Burschen ihre Milch-Körner-Mischung und noch ist nicht viel zu spüren, von der Energie und der Gewitztheit, die der Tag ihnen bald einhaucht.

Punkt sechs blubbern die Heizung und der Warmwasserspeicher leise vor sich hin, die Rollläden öffnen sich automatisch, der Morgen lugt vorsichtig durch das Schwarz der Nacht. Langsam, gemächlich, doch schon sichtbar. Ich tausche behutsam die Nachtschicht gegen die Tagwache. Nach einer solchen Nacht startet der Tag mit ganz tiefer Ruhe und Gelassenheit. Keine Hektik beim Brote schmieren, kein Zum- Zähneputzen-nötigen, den Schlüssel diesmal in Ruhe suchen … Es ist genug Zeit dafür.

Ein wenig vertrieft, schläfrig, noch nicht wach und nicht mehr schlafmüde. Der Verstand weiß, dass ich hätte schlafen sollen. Aber wer hört schon auf den Verstand, wenn Herz und Bauch so innige nahe sind …

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