An einem Januarmorgen steht in Washington in der eiskalten und zugigen Metro- Passage ein Mann in der einfachen Kleidung eines Straßenmusikanten und spielt Geige. Stücke wie Schuberts Ave Maria und Bachs Chaconne in d-Moll, eines der anspruchsvollsten Violinstücke überhaupt, erklingen. Ungefähr 1100 Menschen eilen kurz vor acht mehr oder minder achtlos an dem Straßenmusiker vorbei. In 45 Minuten verdient der Mann mit Violine 32 Dollar, sieben Passanten bleiben stehen, niemand applaudiert. Eine Szene, wie wir sie täglich in den Großstädten der Welt erleben können. Aber hier war es ein ganz besonderes Ereignis, ein Experiment der Washington Post: Die Geige war keine Bordstein-Fidel, sondern eine Stradivari für unglaubliche drei Millionen Dollar und der Musiker hieß Joshua Bell. Der 44-Jährige zählt zu den talentiertesten Violinisten weltweit und führte genau diese „Straßenmusik“ zwei Tage zuvor in der ausverkauften Boston Symphony Hall auf. Dort zahlten die audio“feel“en Zuhörer Unsummen für eine Eintrittskarte. Joshua Bell machte sich seine eigenen Gedanken darüber, was auf ihn zukommt: „Was ist, wenn ich ihnen nicht gefalle? Was, wenn sie mir meine Anwesenheit übel nehmen?“ Offensichtlich kostete es Bell einiges an Überwindung aus dem Schutz seiner Berühmtheit, Anerkennung und den der großen Konzerthallen der Welt herauszutreten, schäbige Klamotten anzuziehen und sich auf die „Ebene eines Fidlers“ zu begeben.
Aber muss er sich dafür schämen? Ist die Musik, die er spielt, nicht auf die Note genau die Gleiche? Warum nahmen ihn die Zuhörer nicht so wahr, wie sie es in einem Konzertsaal der Superlative getan hätten?
Es scheint die Umgebung und Ambiente zu sein, welches es uns ermöglicht, Werte, Schaffenskraft und Kunst zu schätzen. Wir Menschen lassen uns blenden vom schönen Schein. Wir glauben zu wissen, wann und wo wir Qualität erkennen und erwarten dürfen. Wir filtern die Wertigkeit anhand von Äußerlichkeiten heraus.
Im Experiment mit Joshua Bell wurde deutlich, dass wir das Besondere und das Schöne nur wahrnehmen, wenn wir explizit darauf achten. Wie viele Glücksmomente des Alltags entgehen uns damit? Haben wir wirklich nicht mehr die Zeit, einfach innezuhalten, ACHTSAM zu sein? Nutzen wir unsere fünf Sinne wieder:
Öffnen die Augen für die Schönheit der Welt, sehen strahlend weiße Wolken vor tiefblauem Himmel
Spitzen die Ohren für Klänge der Natur, hören die Vögel, die am Morgen zwitschern und Musik, die das Herz berührt
Riechen intensive, starke, leichte, schwache, angenehme Düfte, einen Menschen, der an uns vorbeieilt und den flüchtigen Hauch seines Parfums in der Nase hinterlässt
Schmecken Nahrung aus wenigen Zutaten, eine Pasta mit grünem Spargel und Zucchini und gehobeltem Parmesan
Fühlen – Menschen, die wir mögen, eine raue Baumrinde, einen glatten Kieselstein
Kinder können scheinbar Ewigkeiten einen Marienkäfer bestaunen. Mit jedem Lebensjahr verringern sich die Minuten und die Fähigkeit, von ganzem Herzen zu staunen, in dem Moment zu versinken und einfach ICH zu sein. Gehetzt vom Alltag und den Verpflichtungen verlernen wir das Innehalten.
Unsere Sinne sind der Schlüssel zur Achtsamkeit, lehren uns, den einfachen Dingen des Alltags BeACHTung zu schenken. Diese Sinne zu schärfen, gewährt uns vielleicht auch wieder Zugang zu einem Sinn, der zu wenig gewürdigt wird – unserer Intuition, dem Bauch, dem Herz, dieses tiefe Gefühl, welches einem vermittelt, ob alles gut ist oder uns auch warnt. Das Training dafür können wir im Alltag absolvieren, nur ein paar Minuten innehalten und den Momenten Beachtung schenken, an denen die Mehrheit vorbeirennt. Schauen wir hinter die Fassaden, dort könnte sich ein Schatz verbergen. Nie ist es das Äußere, welches uns gewiss vermitteln kann, was wir im Inneren erwarten dürfen. Den Blick für Details schärfen. Bereit sein, sich überraschen zu lassen. Einen Moment stehenbleiben, innehalten.