Es war der Abend des 9. Novembers 1989. 18:57 Uhr verkündete Günter Schabowski die unglaubliche Botschaft: „ Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin West erfolgen.“ So richtig verstanden die Wenigsten wohl in diesem Moment, was damit gemeint war, aber schnell machten sich Tausende DDR-Bürger auf den Weg Richtung Grenze. Anfangs wohl auch nur, um einfach mal zu schauen. Die Bilder aus Berlin waren Stunden später in den Nachrichten zu sehen.
Gemeinsam mit meinen Cousins, wir waren gerade einmal 14 und 15 Jahre alt, heckte ich bereits am nächsten Tag einen Plan aus: Auch wir fahren nach Westberlin! Gemeinsam verzapften wir schon einigen Mist: Silvesterraketen wurden zerschnitten und das gesammelte Pulver im Hof angezündet; versucht, ob Hundekekse lecker sind (ja, sind sie!) und noch viel mehr, was ich öffentlich nie zugeben würde. Aber der Abend des 9. Novembers war der Beginn einer aufregenden Reise.
Wir „informierten“ unsere Eltern über unseren Plan. Die waren abgehärtet, wussten, dass die drei Sprösslinge viel erzählen können und nahmen uns nicht ernst, ließen uns ziehen. Vermutlich in dem Glauben, dass die Reise bereits am Bahnhof endet. Aber diesmal war es ernst. Wir packten jeder einen Rucksack, schnappten uns den Personalausweis und tigerten zu dritt am späten Abend des 10. Novembers zum Jenaer Bahnhof. Gefühlte Stunden später kam ein Zug. Übervoll. Leute versuchten auf den Puffern mitzufahren und irgendwie quetschten wir uns in einen Waggon. Die ganze Nacht fuhr der Zug gen Norden. Wir machten durch, schwänzten die Schule. Inmitten unzähliger Erwachsener, die überall auf den Gängen und zwischen den Waggons Platz suchten. Niemand kontrollierte. Und eigentlich ist mir davon nur eines in Erinnerung geblieben: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“. Die ganze Nacht grölten, sangen und jubelten die Massen. Eigentlich schon am Ende unserer Kräfte und übermüdet erreichten wir am nächsten Morgen Berlin. Wir hatten keine Ahnung, wo wir hin müssen und folgten den Massen. Und Massen – das war noch untertrieben. Ohne Ticket fuhren wir mit der S-Bahn ins Irgendwo. Ein Schaffner hätte es wohl auch hier nicht geschafft, zu kontrollieren. Am Grenzübergang wollten mich die Grenzer zunächst nicht durchlassen. Ich täuschte Panik vor: „Meine Eltern sind da vorne“, sagte ich und sie ließen mich ziehen.
Wir Drei waren schlicht überfordert, ließen uns treiben und wussten nur, wir müssen zusammenbleiben. Bis zum Bahnhof Zoo schafften wir das auch. Meine Cousins fanden eine Bank, nur unschwer erkennbar an den unglaublichen Schlangen. Das war mir zu blöd, ich wollte mich nicht mit anstellen und tingelte alleine weiter. Versank in den Straßen und zwischen den Häusern von Westberlin. Es war ein Rausch, ein Traum, ein Ichweißnichtwas. Ich schlenderte durch die Geschäfte, die rochen wie ein nicht endenwollender Intershop oder das Westpaket, das zu Weihnachten immer aus Hamburg kam. Frauen an der Kasse, eine alte Dame auf der Straße – sie drückten mir ein Bonbon oder einen Kaugummi in die Hand. Ich fand eine Post und fragte nach … Auch dort konnte ich, ohne anzustehen, mein Begrüßungsgeld abholen, gegen einen Stempel in meinem Zonen-Perso. Einhundert Westmark! Was für ein Vermögen für eine 14-Jährige, deren größtes Glück es einmal war, mit einer Mark Forumcheck in den Intershop gehen zu dürfen. Völlig überfordert konnte ich das Geld zunächst nicht ausgeben. Eine Mischung aus Geiz und ich-weiß-nicht-was-ich-damit-soll hielten mich davon ab. Stundenlang zog ich alleine durch die Straßen und in einem Schreibwarengeschäft schlug ich zu. Hier wurde ich fündig: Stifte, Radiergummis, Lineal, Aufkleber, ein Haufen bunter Kram, Kinkerlitzchen. Nichts von Wert und Dauer. Nur bunt. Ich kaufte, was die anderen hatten, deren Westpakete besser bestückt waren. Die Verkäuferin schenkte mir noch Kleinigkeiten dazu.
Irgendwann schaltete sich der Verstand ein und nur mit Mühe konnte ich Panik vermeiden. Alleine unter den Massen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, wie ich wieder heimkam. Ich sprach einfach eine Frau auf der Straße an. Ich hatte Glück, sie kam von „drüben“ und wollte nach Hause. Sie half mir und nahm mich mit nach Ostberlin auf eine Polizeiwache. Die Beamten waren sichtlich am Ende, die vergangenen beiden Tage hinterließen wohl ihre Spuren. Sie telefonierten und gaben mir auf einem Zettel die Zugverbindung nach Jena, entließen mich mit einer kurzen Wegbeschreibung zum Bahnhof.
Alleine saß ich im Zug zurück. Wieder eine stundenlange Fahrt, die mir wie Tage vorkam. Der Schreck hockte in den Gliedern. Wie ein Film liefen die vorangegangenen Stunden vor meinem geistigen Auge ab. Ich schien unbeteiligt dabei und war doch euphorisch. Ich fragte mich, was ich hier tat, meine Eltern sind nach den zwei Tagen sicher fertig vor Angst, dachte ich. Irgendwann am späten Abend stand ich in der Tür, vorbereitet auf eine Standpauke vom Feinsten. Nichts davon. Schweigend und mit Tränen in den Augen nahm Momy mich in den Arm. Sie hatte die Bilder im Fernsehen gesehen und litt stundenlange Ungewissheit. Hoffte, dass es mir gut geht. Und es ging mir gut. Im Gepäck hatte ich Erinnerungen an einen ganz besonderen Tag. Für mich wurde er zu meinem ureigenen bedeutendsten Tag meiner Weltgeschichte.
Ich war mittendrin, ein Teil davon!
An einem Tag, der es verdient hat, ein Feiertag zu sein.
An einem Tag, der es verdient hat, auch heute noch Beachtung und Dankbarkeit zu finden.
Dankbarkeit für die Freiheit, die uns dieser Tag brachte. Dankbarkeit für die Chance, die Welt entdecken zu dürfen. Dankbarkeit dafür, nicht mehr den Mund halten zu müssen.
Mit viel Gänsehaut geschrieben …